Blutmond

Langsam stapft sie über den wenig begangenen Feldweg. Die Sonne verwandelt die vor ihr liegende Landschaft in eine Welt voller Edelsteine. Sie hält inne und versucht diese Schönheit in sich aufzunehmen. Beinahe traurig muss sie erkennen, dass sie viel zu klein ist, um diesen Eindruck gänzlich erfassen zu können. Die sanften Hügel des Voralpenlandes, Bäume, die von einer weißen Eisschicht überzogen sind, schneebedeckte Scheunen, die sich in die Landschaft einfügen, als würden sie einfach dazugehören. Die kalte Luft schießt in ihre Lungen als sie tief durchatmet. Sie zieht ihren Schal ein wenig über das eiskalte Gesicht, um mit der eigenen Atemluft wärmen zu können. Sie geht weiter und fühlt sich unglaublich erleichtert. Sie beschließt diesen Augenblick für immer festzuhalten. Dieser Augenblick an diesem Tag, dem eine so seltsame Nacht vorrangig.
Noch nicht einmal zwölf Stunden ist es her, als sie das letzte Mal auf diesem Weg ging. Sie kann noch immer ihre eigenen Spuren im Schnee erkennen, die ihr nun entgegenkommen. Doch wie anders war ihr da zumute gewesen. Gespenstisch war ihr diese Welt erschienen. Schon oft war sie diese Strecke gegangen, auch zu später Stunde. Heute war aber etwas anders als sonst. Erst wusste sie nicht so genau, was es war. Bis sie zum Mond hinauf blickte. Hell strahlte er. Es war Vollmond. Doch nach und nach schob sich ein roter Schatten über die helle Scheibe. ‘Blutmond’ schoss ihr durch den Kopf. Eine Mondfinsternis war gerade dabei, ihren Verlauf zu nehmen. Sie hatte es nicht gewusst. Ein seltsames Licht breitete sich zunehmend über die nächtliche Winterwelt aus.

Sie ging weiter, wollte endlich nach Hause, einen heißen Tee trinken, sich in die warme Wanne legen, vielleicht noch ein Buch lesen. Entspannung. Die Knochen taten ihr weh nach einem langen und harten Arbeitstag in der Wirtschaft. Immer wieder schwor sie sich, nicht mehr auszuhelfen. Aber in der Weihnachtszeit wurde sie immer wieder schwach, wenn ihre Mutter mit Dackelblick ankam und sie um Hilfe bat.

In Gedanken versunken strebte sie ihrer kleinen Wohnung zu, als sie irritiert inne hielt. Hörte sie nicht hastige Schritte im Schnee? Und wirklich, da kam ihr jemand entgegengelaufen. Eine junge Frau, etwa im selben Alter wie sie selbst, stand mit einem Mal vor ihr. Völlig aufgelöst, Tränen die über die Wangen laufend. “Kennen Sie sich hier aus? Hier muss irgendwo eine kleine Hütte sein? Ich muss sie finden! Bitte! Oh mein Gott, Jessica, er hat sie!” – “Eine kleine Hütte? Kann schon sein, solche gibt es hier viele. Aber was ist denn los?” “Meine Tochter, er hat sie! Er hat sie mir weggenommen! Bitte helfen Sie mir!” – “Wer hat sie Ihnen weggenommen?” – “Jessicas Vater! Der größte Fehler meines Lebens! Er will sie mir wegnehmen, sie in seine Heimat bringen und da finde ich sie nie wieder! Oh bitte helfen Sie mir, diese Hütte zu finden! Sie muss hier irgendwo sein, er hat sie einmal erwähnt. Sie müssen dort sein!” Pure Verzweiflung und Hilflosigkeit sprachen aus der jungen Frau. Fieberhaft überlegte die Gefragte, wo hier die Hütte sein könnte, die sie meinte. Als Kind hatte sie hier so oft gespielt. Es gab viele kleine Hütten in dem umliegenden Wäldern, die meist als Ferienwohnung genutzt werden. “Die Hütte muss hier ganz in der Nähe liegen?” – “Ja, das ist das einzige, das ich weiß, aber ich finde den Weg nicht!” – “Dann fällt mir hier nur eine Hütte ein. Aber es führt kein Weg von hier dort hin. Die Hütte hat nur eine direkte Abzweigung von der Hauptstraße. Von diesem Fußgängerweg kommt man dort nicht hin.” – “Das muss sie sein! Dann muss ich zurück zur Hauptstraße!” Sie hatte schon umgedreht und wollte wieder zurücklaufen. “Halt!” – “Was ist?” – “Wir können direkt durch den Wald gehen. Ich kenne ihn wie meine Westentasche. Das ist viel schneller und heute scheint der Mond hell.” Kurzerhand nahm sie die verzweifelte Mutter an der Hand uns stürmte mit ihr los. Im Wald kamen sie gut voran. Es war ein alter Wald, der kaum Unterholz hatte. Nach kurzer Zeit waren sie beide völlig atemlos. “Ist es noch weit?” – “Nein, wir sind gleich da. Ich bin übrigens Saskia.” – “Birgit” kam es nur keuchend zurück. Ein Licht schimmerte durch den Wald. “Da, ein Fenster!” rief Saskia. “Diese Hütte meinte ich! Ist das die richtige?” – “Ich weiß es nicht, ich kenne sie nur aus Erzählungen. Und auch das Auto davor kenne ich nicht, aber das muss nichts heißen.” Hinter einen Busch gingen sie in Deckung und beobachteten das Haus. “Es ist das richtige Haus!” rief Birgit und sprang auf. Saskia hörte es nun auch. Da war eindeutig das Weinen eines Kindes zu hören. “Mo..” fing sie an zu rufen und wollte Birgit zurückhalten. Doch es war schon zu spät, Birgit klopfte bereits Sturm an der Türe. Instinktiv zog Saskia sich wieder hinter den Busch zurück. Erst jetzt fiel ihr auf, dass es vielleicht klüger gewesen wäre, zur Polizei und nicht zur Hütte zu stürmen. Fieberhaft überlegte sie, ob sie das jetzt endlich tun sollte. Wie immer hatte sie ihr Handy vergessen, wenn sie es einmal wirklich brauchte. Aber wenn sie jetzt hier wegging? Vielleicht war das dann auch genau die falsche Entscheidung? Die Türe der Hütte öffnete sich. Sofort war ein heftiger Streit in einer slawisch klingenden Sprache im Gange. Sie verstand kein Wort. Ein lauter Schrei, der ihr das Herz stocken ließ. Ein dumpfer Aufprall. Panik. Was sollte sie jetzt tun? Stille. Was war im Haus passiert? Sollte sie versuchen, nachzusehen? Die Entscheidung wurde ihr abgenommen. Die Türe öffnete sich und ein Mann trat heraus. Er zog die offenbar bewusstlose Birgit hinter sich her und hievte sie in das Auto. Saskia konnte seinen Atem hören, der Busch stand unmittelbar neben dem Auto. Sie getraute sich selbst kaum noch zu atmen. Als der Mann Birgit auf den Rücksitz gelegt hatte, kam er mit dem Kopf aus dem Auto wieder hervor – und stutzte. Er hatte nun auch den Mond gesehen, der nun vollständig rot am Himmel zu sehen war. Ohne nachzudenken nutzte Saskia diesen Moment. Der schwere alte Ast, der zufällig neben ihr am Boden gelegen hatte lag mit einem Mal in ihren Händen, sie erhob sich, trat schnell die zwei Schritte hinter dem Busch hervor, holte aus und schlug zu…. Blut färbte den Schnee kreisrund rot.

Zwölf Stunden war das nun her gewesen. Sie konnte sich nun an den ungläubigen, völlig überraschten Blick des Mannes erinnern, als er sich noch einmal umblickte bevor er zu Boden ging. Saskia war selbst völlig überrascht gewesen, was sie da gerade getan hatte. Erschrocken prüfte sie, ob der Mann noch lebte. Er hatte eine Platzwunde am Schädel, aber sein Atem ging ganz normal. Danach hatte sie sich überzeugt, dass es auch Birgit soweit gut ging. In der Manteltasche des Mannes fand sie dann sein Telefon und konnte endlich Hilfe rufen. Mit ihrem Schal fesselte sie notdürftig die Hände des Mannes, da sie irrsinnige Angst hatte, er könnte wieder aufwachen, bevor endlich Hilfe kam. Die Zeit bis dahin erschien ihr endlos. Als dann noch das Quengeln des Kindes im Haus immer lauter wurde, wagte sie es, nach dem Rechten zu sehen. Das Kind lag in einem Reisebett und sie beschloss, dass es dort vorerst am besten aufgehoben sei. Mit dem Ast bewaffnet ging sie zurück und bewachte ihren Gefangenen bis endlich die Polizei und der Krankenwagen eintrafen. Erst dann begann sie zu zittern und zu weinen und kam erst langsam wieder zu sich, nachdem der Sanitäter, der mit ihr zur Schule gegangen war, sie minutenlang im Arm gehalten hatte. Sie musste mit zur Wache und alles wieder und wieder erzählen. Am Ende war sie direkt dort eingenickt und man hatte sie nach Hause gebracht. Als sie aufwachte, machte sie sich sofort wieder auf. Neue Weihnachtsfeiern standen im Gasthof ihrer Eltern an. Diesmal war sie froh, dort helfen zu können.

© Devana Remold