Pssst

Sie saßen in lustiger Runde. Es war ein netter, weihnachtlicher Abend unter Freunden, mit vielen Plätzchen und Glühwein. Sie fühlte sich so richtig wohl, lachte viel und alberte mit den Anderen herum. Es herrschte eine ausgelassene Stimmung. So langsam kam sie auch richtig aus ihr heraus, ihre mitunter scharfe Zunge löste sich immer mehr. Passiert nicht oft.
Man könnte sagen, sie war regelrecht aufgedreht. Die Anderen aber ebenso. Nettigkeiten der besonderen Art wurden über den Tisch geworfen und es gab einen herrlichen Wettkampf der Schlagfertigkeiten. Ihre Zunge war gelöst, heute konnte sie da locker mithalten.

Nach einer Weile fehlte ihr aber etwas. Das tiefe, laute Lachen an ihrer Seite hatte sie nun schon längere Zeit nicht mehr gehört. Sie blickte an ihre rechte Seite, wohin sie heute nur selten geblickt hatte. Warum lachte er nicht mehr?

Ihr Blick traf den seinen. Doch, er amüsierte sich auch, das konnte sie an seinen Augen und den hochgezogenen Mundwinkeln erkennen. Etwas irritierte sie dennoch an ihm. Aber sie konnte nicht länger darüber nachdenken, wurde doch gerade der nächste Kommentar in den Raum geworfen, auf den ihr auch sofort die passende Antwort einfiel. Mit einem Lächeln wandte sie sich schon wieder an die Runde, holte Luft, um das zu sagen, was ihr auf den Lippen lag, öffnete den Mund… und schwieg dann doch.

Ein Finger hatte sich auf ihre Lippen gelegt. Sie wandte ihren Kopf wieder nach rechts, fand abermals seine Augen.
“Pssst…” flüstere er ihr nur ganz leise zu.
Ein fragender, ungläubiger Blick traf ihn. Wieder ein Versuch, zu sprechen, eine Frage, warum sie denn schweigen solle, sollte es werden… doch auch diese Frage blieb unausgesprochen. Diesmal reichte ein leichtes Zucken seiner Augenbraue und der noch immer sehr eindringliche Blick, der auf ihr ruhte.

Ein schneller Blick in die Runde. Hatte jemand mitbekommen, was gerade ablief? Den durch den Kommentar in die Gruppe geworfenen Ball hatte längst jemand anderer gefangen und durch einen ähnlichen Kommentar, den sie erwidern wollte, weitergespielt. Niemanden fiel auf, dass sie mit einem mal verstummt war, sie waren mit sich selbst beschäftigt. Ihre Augen fanden wieder die seinen.
Er ergriff ihre Hand, wandte sich an die Runde: “Wir müssen nun leider schon gehen, ich muss morgen früh raus.” Dabei zog er sie hoch, ergriff ihren Mantel, der über ihrem Stuhl gehangen hatte, half ihr hinein und ergriff abermals ihre Hand.

“Schade, dass ihr schon gehen müsst! Sehen wir uns am Dienstag?”
Die Frage war an sie gerichtet. Ein warnender Handdruck. Ein kurzes Augenduell mit ihm. Sollte sie widerspenstig sein oder gehorchen? Auch wenn es vielleicht komisch wirken würde, auch wenn es sie reizen würde, ihm nicht zu gehorchen, ihn zu reizen. Erst recht in ihrer ausgelassenen Stimmung. Doch diesen Blick hatte sie schon so lange nicht mehr von ihm gesehen. Für eine Sekunde schloss sie die Augen, erinnerte sich an das Gefühl seines Fingers auf ihren Lippen… und dieses “Pssst…”. In ihrer Magengegend breitete sich ein warmer Schauer aus, der ihren ganzen Körper erfasste. Als sie die Augen wieder öffnete hatte er gewonnen und er sah das. Schenkte ihr ein kurzes, warmes Lächeln.

Er wandte sich an die Freundin, von der die Frage gekommen war.
“Ihr könnt ja morgen telefonieren. Kann sein, dass wir Dienstag nicht da sind.” Dankbar drückte sie nun leicht seine Hand, dass er sie aus dieser Situation gerettet hatte.
“Okay, ich rufe dich dann morgen einfach mal an!” sagte die Freundin wieder zu ihr.
Sie lächelte nur und nickte ihr zu.
Das Lächeln behielt sie auch bei den nun folgenden Verabschiedungen auf. Seltsamerweise schien gar niemandem aufzufallen, dass sie nichts sagte, nur alle umarmte.
Endlich waren sie draußen. Die kalte Nachtluft schlug ihnen entgegen und es schneite sogar ein wenig. Unter dem Licht einer Straßenlaterne fanden sich ihre Blicke abermals. Er strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Sie versuchte ihn möglichst fragend anzusehen, doch er war zu keiner Antwort bereit, hakte ihren Arm bei sich unter und ging los. Sie hatten keinen weiten Heimweg, waren deshalb zu Fuß gekommen. Ihre Schritte hallten durch die nächtlichen Straßen, doch gesprochen wurde nichts. Sie zog ihren Mantel enger um sich und kuschelte sich an seine Seite, denn es war eine kalte Nacht und ein eisiger Wind kam ihnen entgegen.

Dennoch war ihr ganz warm ums Herz und ein Kribbeln, das sie schon so lange nicht mehr gespürt hatte, überzog ihren gesamten Körper. Was würde sie zu Hause erwarten?

Als sie endlich die Eingangstür des Mehrfamilienhauses aufgesperrt hatten, wollte sie automatisch das Licht einschalten. Schnell hielt er sie davon ab und führte sie im Dunklen die wenigen Treppen zu ihrer Wohnungstür hinauf. Er schloss auch diese Tür und trat in die gemeinsame Wohnung. Als sie ihm folgen wollte, hielt er sie abermals davon ab.
“Gib mir deinen Mantel” forderte er sie auf. Etwas verunsichert zog sie noch im Treppenhaus ihren Mantel aus und reichte ihn ihm.
“Und nun noch deine Stiefel.” Ihn mit großen fragenden Augen anblickend zog sie auch die Stiefel aus und reichte sie ihm ebenfalls.
“Du wirst hier nun im Dunklen stehen bleiben und still langsam bis Fünfhundert zählen. Dann wirst du dich hier draußen noch weiter ausziehen. Hast du heute Unterwäsche an, die mir gefallen wird, darfst du sie anbehalten. Andernfalls ziehst du sie auch aus. Anschließend wirst du zweimal leise anklopfen, nochmals langsam bis Zehn zählen und dann aufsperren und eintreten. Hier hast du den Schlüssel.” Er reichte ihr den Wohnungsschlüssel und schloss einfach vor ihrer Nase die Tür.

Verdutzt blieb sie stehen. Damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet. Gefiel ihr das nun, oder nicht? Aber ja… das Kribbeln war noch immer da, hatte sich sogar verstärkt und konzentrierte sich eindeutig an einer Stelle, die ihr anzeigte, dass es ihr sehr gefallen musste. Vor lauter Überraschung hatte sie ganz vergessen, zu zählen.
‘Eins, zwei, drei…’
Was er nun da drinnen vorbereitete? Wie viel Zeit vergeht, bis man bis Fünfhundert gezählt hat?
‘Einhundertsiebenundzwanzig, einhundertachtundzwanzig, einhundertneunundzwanzig…’
Irgendwie gelingt ihr es nicht, zu zählen und gleichzeitig Fünfhundert geteilt durch Sechzig zu teilen. Ist dies nur die Aufregung oder kann sie das sonst auch nicht?
‘Zweihundertundzwölf, zweihundertunddreizehn, zweihundertundvierzehn…’
Was soll sie einem Nachbarn erzählen, der nun zufällig auch zu dieser späten Stunde nach Hause kommt?
‘Zweihundertneunundachzig, zweihundertneunzig, zweihunderteinundneunzig…’
Sie darf ja eigentlich noch nicht mal sprechen.
‘Dreihundertzweiundvierzig, dreihundertdreiundvierzig, dreihundertvierundvierzig…’
Und was soll sie erst einem Nachbarn erzählen, wenn sie gerade nackt vor der Tür steht?
‘Dreihundertachtundsiebzig, Drei… wie geht es jetzt gleich nochmals weiter? Dreihundertachtundsiebzig, dreihundertneunundsiebzig, dreihundertachtzig…’
Sie könnte ihm erzählen, dass sie sich ausgesperrt hat.
‘Dreihundertneunundneunzig, vierhundert, vierhunderteins…’
Auch wenn er ihr das mit dem Schlüssel in der Hand nicht wirklich glauben wird.
‘Vierhundertdreiundzwanzig, vierhundertvierundzwanzig, vierhundertfünfundzwanzig…’
Welche Unterwäsche trug sie heute eigentlich? War das sexy genug?
‘Vierhundertvierundvierzig, vierhundertfünfundvierzig, vierhundertsechsundvierzig…’
Der String ist in Ordnung, aber der BH hatte schon bessere Tage gesehen, auch wenn er superbequem ist.
‘Vierhundertsiebenundsiebzig, vierhundertachtundsiebzig, vierhundertneunundsiebzig…’
Sie würde den String anbehalten und den BH ausziehen.
‘Vierhundertsiebenundneunzig, vierhundertachtundneunzig, vierhundertneunundneunzig…’

Fünfhundert. Die Zahl war erreicht. Sie atmete einmal tief durch und begann dann, sich im Rekordtempo auszuziehen – dabei immer lauschend, ob sich irgendeine Tür öffnete. Beinahe hätte sie sofort danach die Türe aufgesperrt und wäre hineingehuscht. Im letzten Moment besann sie sich, klopfte zweimal an, zählte so langsam wie ihr möglich war – also ziemlich schnell – bis Zehn und schloss die Tür auf. Sie trat ein…

© Devana Remold