Das Inserat

89jähriger sucht deutschsprachige Frau, die ihn mit Hausmannskost bekocht. Von Essen auf Rädern habe ich genug! Später könnten leichte Pflegetätigkeiten hinzukommen, noch benötige ich diese nicht. Ein Schlafzimmer zu Wohnzwecken kann gestellt werden.

 

Zum dritten Mal las Susanne dieses Inserat durch und nippte an ihrer Kaffeetasse. Diese Anzeige war anders als alle anderen, die sie bisher gelesen hatte. Nicht nur das. Es würde ihre beiden größten Probleme auf einen Schlag lösen, denn sie war nicht nur auf Jobsuche, sondern suchte auch ganz dringend eine neue Bleibe. Einen Studentenjob in München zu bekommen, war meist nicht schwer. Die Bleibe allerdings schon und sie musste in spätestens zwei Monaten ihr WG-Zimmer räumen, da der Hauptmieter der WG mit seinem Studium fertig war und mit seiner künftigen Frau die Wohnung für sich alleine haben wollte.

Bislang war ihre Wohnungssuche erfolglos verlaufen. Sie stand zwar auf der Warteliste diverser Wohnheime, aber da standen noch viele Namen vor ihr. Auf dem freien Wohnungsmarkt hatte sie bislang nichts Bezahlbares gefunden. Sie musste ihr Studium fast alleine finanzieren. Sie war in der dummen Situation, dass ihre Mutter zu viel verdiente, als dass sie BaföG bekommen hätte, ihre Mutter allerdings einen großen Schuldenberg abbezahlen musste, den ihr Vater ihnen hinterlassen hatte, als er vor einigen Jahren überraschend gestorben war. Ihre Mutter bezahlte ihr zwar die Studiengebühren, für den Rest musste Susanne alleine aufkommen.

Sollte sie da wirklich anrufen? Kochen? Ja, das konnte sie, hatte sie schon immer gerne getan. Nicht unbedingt immer deutsche Hausmannskost, aber sie war in der Küche experimentierfreudig und nicht untalentiert. Sie würde sich sicherlich auf die Wünsche des alten Herrn einstellen können. Alter Herr. Ja, so stellte sie sich ihn vor. Aus den wenigen Worten der Anzeige sprach ein wacher Geist mit einem starken Willen. Das faszinierte sie. Andererseits machte es ihr auch Angst. Würde sie wirklich mit jemanden zusammen wohnen können, der so viele Jahre älter war als sie? Würde das nicht unweigerlich zu Konflikten führen?

Die Verlockung, zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen zu können, war einfach zu groß. Kurzerhand griff sie zum Telefonhörer und rief an. Vielleicht wollte er eh keine Studentin, aber versuchen konnte man es ja.

Bereits am nächsten Tag stand sie vor einem schicken Altbau in Haidhausen. Nicht gerade das billigste Viertel von München – wenn man überhaupt irgendein Viertel Münchens als wirklich billig bezeichnen konnte. Ein altertümlicher Fahrstuhl brachte sie ins oberste Stockwerk. Innerlich machte sie sich darauf gefasst, nicht nur den alten Herrn anzutreffen. Gestern am Telefon war sie im ersten Moment etwas überrumpelt gewesen, als sich eine Frauenstimme gemeldet hatte. Wie sich herausgestellt hatte, war es die Tochter des Herrn gewesen, die ihrem Vater half, eine geeignete Hilfe für ihn zu finden.

In der Tat öffnete ihr die Tochter die Wohnungstüre. Ein wenig überrumpelt war sie dennoch, da die Tochter in ihren Augen auch schon eine alte Frau war. Dann schalt sie sich insgeheim, dass sie da schon eher hätte drauf kommen können, dass ein knapp Neunzigjähriger eine Tochter haben musste, die auch schon um die Sechzig war. Die Tochter lächelte ihr aufmunternd zu, nahm ihr ihre Jacke ab und bat sie, ihre Schuhe auszuziehen.

„Na dann kommen Sie mal mit in die Höhle des Löwen!“, lachte sie und ging vor. Dieser Kommentar konnte die Nervosität, die Susanne mit einem Mal in sich verspürte, in keiner Weise mindern. Bewundernd sah sie sich in dem Flur um, in dem sie gerade noch stand. Ein riesiger Raum mit hoher Stuckdecke, von dem viele Türen abgingen. Die Türen waren zumeist große Flügeltüren. Im Flur standen einige wenige Möbel herum, die alle wie wertvolle Antiquitäten aussahen. Nicht unbedingt ihr Einrichtungsstil, doch in diese Wohnung passten sie einfach perfekt. Es blieb keine Zeit, sich noch weiter umzusehen. Sie war der Tochter ins Wohnzimmer gefolgt und ihre Aufmerksamkeit war auf ihren potenziellen künftigen Arbeit- und Wohnungsgeber gerichtet. Das erste, was ihr auffiel, waren klare, stahlblaue Augen, die sie von oben bis unten musterten.

„Papa, das ist Fräulein Hirth. Die Studentin, die sich auf unser Inserat gemeldet hatte.“

Wieder wurde sie gemustert und erst jetzt fiel Susanne der alte Körper auf, der in einem Sessel saß. Dieser Körper war keineswegs schlapp. Aufrecht und voller innerer Spannung saß Herr Wagner da, während seine Hände auf einem Gehstock gestützt waren. Würde. Dieses Wort schoss Susanne bei seinem Anblick durch den Kopf.

Als einige Sekunden vergingen, in denen niemand etwas sagte, nur das Ticken der großen Standuhr zu hören war, kramte Susanne innerlich panisch in ihrem Gedächtnis. Was sagten die Benimmregeln? Musste sie etwas sagen oder war die Reihe an ihm? Da wurde sie erlöst: „Was studieren Sie?“

Oh, welch herrlicher Bariton in der Stimme! Mühelos füllte seine Stimme den ganzen Raum aus und ließ ihr einen Schauer über den Rücken rinnen. Irgendwie kam ihr diese Stimme bekannt vor.

„Kommunikationswissenschaften“, antwortete sie.

Ein amüsiertes Lachen erfüllte gleich darauf den Raum. „Wollten Sie das schon immer studieren oder wussten Sie einfach nichts Besseres?“

„Eher letzteres“, gab Susanne mit einem Lächeln zu. Der Studieninhalt hatte sie angesprochen, aber ihr war noch immer nicht klar, was sie nach dem Studium machen wollte.

„Setzen Sie sich!“, forderte er sie mit einem Nicken auf das Sofa auf.

„Danke“, sagte Susanne und setzte sich erleichtert.

Die Tochter setzte sich in einen weiteren Sessel, hielt sich aber aus dem Gespräch ganz raus.

„In welchem Semester sind Sie?“, wurde Susanne weiter ausgefragt.

„Im dritten.“

Herr Wagner nickte bedächtig, als sei das eine wichtige Information für ihn gewesen. „Wissen Sie“, fuhr er fort, „an eine Studentin hatte ich gar nicht gedacht, als ich das Inserat aufgab. Aber ich habe mir das durch den Kopf gehen lassen. Das könnte funktionieren und da Sie erst am Anfang des Studiums sind, besteht vielleicht die Chance, dass Sie mir etwas länger erhalten bleiben. Wie sieht es denn mit Ihren Kochkünsten aus? Ich habe den Eindruck, dass diese Kunst bei vielen jungen Leuten heutzutage etwas vernachlässigt wird.“

Susanne freute sich, dass sie nun hoffentlich punkten konnte.

„Ich habe zu Hause gekocht, seit ich vierzehn Jahre alt bin. Meine Mutter musste damals viel arbeiten und ich habe es dann übernommen, jeden Tag für uns zu kochen. Und ich koche gerne!“, beeilte sie sich noch zu sagen. „Ich probiere ständig neue Rezepte aus, bin aber gerne bereit, mich da ganz nach Ihren Wünschen zu richten. Aber…“, geriet sie plötzlich ins Stocken.

„Ja?“ Er sah sie erwartungsvoll an.

„Hatten Sie daran gedacht, dass ich mittags oder abends für Sie koche? Um ehrlich zu sein, mittags würde ich das wegen meines Studiums wohl oft nicht schaffen.“

„Das ist verständlich. Dieses Essen auf Rädern kam immer mittags. Ich habe ein Lebtag lang meine Hauptmahlzeit am Abend eingenommen. Ich denke, es wird kein Problem sein, wieder dahin zurück zu kommen.“

Ermutigt traute sich Susanne, noch weitere Fragen zu stellen: „Wie hatten Sie sich das Arbeitsverhältnis eigentlich vorgestellt? Welche Mahlzeiten soll ich für Sie zubereiten? Und kann ich wirklich hier wohnen? Und an welche Bezahlung hatten Sie gedacht?“

Erneut lachte Herr Wagner. „Langsam Kindchen, immer eines nach dem anderen. Sie benötigen also auch die Wohnmöglichkeit? Wo wohnen Sie jetzt?“

„In einer Wohngemeinschaft, aber die wird aufgelöst und ich brauche also eine neue Unterkunft“, gab sie ehrlich zu.

„Gut, wenn Sie also hier wohnen möchten, würde ich folgenden Vorschlag machen: Sie bereiten mir das Frühstück zu, stellen einen kleinen kalten Imbiss in den Kühlschrank für Mittag und kochen dann am Abend. Je Woche haben Sie einen freien Tag. Für die Unterkunft würde ich von Ihrem Gehalt eine gewisse Summe abziehen. Ich melde Sie als Haushaltshilfe an und Sie bekämen abzüglich der Zimmermiete noch etwa 350 Euro auf die Hand. Ach ja, und wenn Sie mit mir essen, dann ist die Kost frei. Wäre das etwas für Sie?“

Susanne überschlug kurz die Zahlen. Bisher hatte sie fast weniger übrig gehabt und hatte davon noch das Essen bezahlen müssen.

„Kann ich das Zimmer sehen, das ich bewohnen könnte?“

„Selbstverständlich. Wenn Sie mit meinen Bedingungen einverstanden sind und Sie heute Abend noch nichts anderes vorhaben, würde ich Sie bitten, für uns zu kochen. Danach teile ich Ihnen meine Entscheidung mit.“

Mit diesen Worten erhob er sich. Dabei stützte er sich auf die Armlehne des Sessels sowie auf seinen Stock. Doch der Stock verweigerte seinen Dienst und rutschte zur Seite. Mit einem lauten Krachen donnerte er auf den Parkettboden und hinterließ seinen Besitzer in einer misslichen, gar nicht mehr würdevollen, halb aufgerichteten Lage.

Susanne hielt für einen Moment die Luft an, doch schnell riss sie sich aus ihrer Starre heraus, eilte zu ihrem potenziellen künftigen Arbeitgeber, stützte ihn beim Aufstehen, hob den Stock auf und reichte ihn mit noch einem Bein auf dem Boden kniend an ihn zurück.

Als sie nach oben blickte, traf sie erneut dieser klare Blick aus diesen wahnsinnig blauen Augen und ein Schauer rann ihr den Rücken herunter. Kaum zu glauben, dass diese Augen zu einem alten Mann gehören sollten. Eine Hand legte sich auf ihren Kopf.

„Danke, Kindchen“, sagte er und ging mit erstaunlich festen Schritten aus dem Raum und löste damit diesen seltsamen Augenblick auf.

Langsam erhob sich Susanne um zu folgen.

„Ich glaube, Sie gefallen ihm“, raunte ihr die Tochter im Hinausgehen ins Ohr.

So hatte alles angefangen und schon eine Woche später fand sich Susanne in einer gar seltsamen Rolle wieder. Ihr Studentenleben änderte sich dem Anschein nach kaum. Sobald sie die Wohnungstüre ihres neuen Domizils geöffnet hatte, schlüpfte sie in die Rolle der Hausangestellten. Die Küche war zu ihrem Bereich geworden. Direkt an die Küche angrenzend: Ein winziger Flur, drei Türen. Eine davon führte in ihr Zimmer, die andere in ein kleines Bad, die dritte in ein weiteres Zimmer. Verschlossen. Rumpelkammer hatte ihr Dienstherr gesagt. Dienstbotentrakt hatte er diesen Teil seiner riesigen Wohnung genannt. Dienstbotin. Das war sie nun also, wie sie innerlich schmunzelnd festgestellt hatte. Es gab Schlimmeres, musste sie zugeben.

Die ersten Tage war sie befangen gewesen. Es war seltsam, die Wohnung mit einem so viel älteren, fremden Menschen zu teilen. Er nahm ihr diese Befangenheit schon nach kurzer Zeit. Er lobte ihr Essen, dass es ihr schon fast peinlich war. Er begann, Wünsche zu äußern und sie bemühte sich, ihnen nachzukommen, auch wenn es zum Teil Dinge waren, die sie noch nie gekocht, geschweige denn gegessen hatte. Anfänglich speisten sie gemeinsam im Esszimmer. Ein Raum, in dem sie sich von Anfang an nicht wohl gefühlt hatte, strahlte er doch die Gemütlichkeit einer Benimmschule aus. Herr Wagner verstand es, ihre Aufmerksamkeit von diesem ungemütlichen Raum abzulenken. Er war ein erfolgreicher Opernsänger gewesen. Nicht mit Weltruhm, aber lokal sehr angesehen. Wie hätte es anders sein können, bei dieser Stimme? Als sie das erfuhr, wusste sie auch mit einem Schlag, woher sie seine Stimme kannte. Sie war ihr ein treuer Begleiter in ihrer Kindheit gewesen. Die Sprecherstimme ihrer Lieblingshörspiele.

Das änderte sich jedoch an dem Tag, als ihr das Essen derart gründlich misslang, dass sie zum Ende mit Tränen in den Augen vor dem kulinarischen Dilemma in der Küche stand. Der Braten war zäh wie Schuhsohle, die Knödel waren im Wasser zerfallen, die Sauce angebrannt und das Gemüse zerkocht. In dem Moment kam Herr Wagner, wohl angelockt vom betörenden Duft der angebrannten Sauce, zu ihr in die Küche. Tat er sonst nie. Keiner von beiden sagte etwas, als er zu ihr an den Herd trat und einen kurzen Blick in ihre Töpfe warf.

„Ziehen Sie sich um, ich lade Sie zum Essen ein. Beeilen Sie sich.“

Als sie spätabends nach Hause kamen, schwirrte ihr immer noch der Kopf. Er hatte sie neben sein früheres Stammlokal geführt. Nach wie vor der Ort, wo sich anscheinend die halbe Opernwelt traf. Es hatte ein großes Hallo gegeben und ein noch größeres, als Herr Wagner sie als seine Köchin vorgestellt hatte. Gefundenes Fressen. Sie hatte sich amüsiert. Intellektuelles Geplänkel höchster Güte. Und doch oberflächlich.

Seit diesem Abend änderte sich jedoch das Verhältnis zwischen ihr und Herrn Wagner. Es entwickelte sich eine gegenseitige Anziehung. Anfänglich zögerlich, dann immer offener, suchten sie ihre gegenseitige Nähe. Bald schon gesellte sich Herr Wagner zu ihr in die Küche, während sie kochte. Sie unterhielten sich über Gott und die Welt oder schwiegen gemeinsam, während er Zeitung las und sie sich auf ihre Arbeit konzentrierte. Der Einfachheit halber aßen sie gleich am Küchentisch. Herr Wagner genoss ihre Jugend, ließ sie auf sich abfärben, fragte sie nach ihrer Meinung, ihren Ansichten, ihren Erfahrungen. Er erzählte ihr von seinem Leben und sie sog diese Geschichten gierig auf. Langsam öffnete sie sich ihm, erzählte von ihren Ängsten und Sorgen. Ihren Sehnsüchten, was sie sich vom Leben erhoffte und was ihr den Weg dorthin schwer machte. Herr Wagner hörte zu, gab ihr das Gefühl, ernst genommen zu werden und wenn ihm etwas einfiel, sagte er etwas zu ihren Gedanken. Oft erzählte er Geschichten aus seinem Leben, die Ähnlichkeiten mit ihrer Situation hatten.

Als Susanne nach einiger Zeit abends in ihrem Bett lag und über sich nachdachte, musste sie sich eingestehen, sich unerwartet wohl zu fühlen. Hatte sie anfänglich Angst gehabt, dass sich das Zusammenleben mit Herrn Wagner als schwierig erweisen könnte, war mittlerweile fast eine Freundschaft zwischen den beiden entstanden. Sie hätte nicht gedacht, dass es dazu kommen würde. Sie fühlte sich wohl in ihrer neuen Rolle, die mittlerweile wohl weit über die einer Köchin hinaus ging. Gesellschafterin fiel ihr ein. Nicht nur das. Sie profitierte ebenfalls von dieser Konstellation. Sie war viel disziplinierter geworden. Hatte sie bisher ihr Studium eher halbherzig betrieben, war dies anders geworden, seit dem sie dies Herrn Wagner gestanden hatte. Er hatte ihr erst eine Geschichte darüber erzählt, wie es ihm in früheren Jahren ähnlich ergangen war, als er in die Welt der Oper und des Theaters Einzug gehalten hatte und darüber vergessen hatte, seinen Beruf ernst zu nehmen. Er erzählte ihr, wie er es damals geschafft hatte, sich wieder auf Spur zu bringen. Doch nicht genug. Mit kleinen Andeutungen, Fragen, Blicken brachte er sie in den kommenden Wochen dazu, fleißig zu sein. Sie erzählte ihm sogar davon, wenn wichtige Prüfungen und Hausarbeiten anstanden. Wohl wissend, dass er ein Auge auf sie richten würde. Wohl wissend, dass sie ein kritischer Blick aus diesen stahlblauen Augen treffen würde, sollte sie ihm den Eindruck vermitteln, nicht mit sich zufrieden zu sein. Diese Augen konnten sie auch anstrahlen, wenn er merkte, dass sie voll bei ihrer Sache war. Sie wollte dieses Strahlen sehr oft sehen. Sie hätte wetten können, er sei stolz auf sie. Sie wurde stolz auf sich selbst.

„Wurde dieser Dienstbotentrakt schon in früheren Zeiten für Hausangestellte genutzt?“, fragte sie eines Tages beim Abendessen mit Blick auf die Tür, die von der Küche weg in die beiden Zimmer führte, von denen eines das ihre war.

„Sie meinen, seit dem ich hier wohne?“, fragte er nach.

„Ja. Ich weiß, dass ihre Frau wohl schon früh gestorben sein muss“, sagte sie vorsichtig.

„Das stimmt. Sie starb, da war Emily gerade einmal sechzehn Jahre alt.“

„Das muss schwer gewesen sein.“ Mehr getraute sich Susanne nicht zu sagen und einen Moment wusste sie nicht, ob das folgende Schweigen nun unangenehm war oder Herr Wagner einfach in alten Erinnerungen gefangen war. War sie zu weit gegangen, indem sie persönliche Dinge fragte?

„Christa“, sagte da Herr Wagner in die Stille hinein. Er hob den Kopf, der bislang auf seinen Teller gerichtet gewesen war, und sah Susanne direkt in die Augen. „Christa“, wiederholte er nochmals. „Sie zog hier nach dem Tod meiner Frau ein, begleitete Emily, bis sie auszog und führte mir noch über Jahre hinaus den Haushalt. Sie bewohnte beide Zimmer, das eine war ihr Wohnzimmer, das andere ihr Schlafzimmer.“

Susanne nickte, wusste sie doch nicht, was sie darauf sagen sollte.

„Sie erinnern mich an sie, Kindchen“, fügte er noch hinzu.

„An Christa?“, fragte sie nach und tausend Fragen schossen ihr durch den Kopf, die sie aber nicht zu stellen wagte. Sie beschränkte sich auf ein: „Sah ich ihr ähnlich?“

Er lächelte. „Nein, das nicht. Nicht sehr. Eure Augen sehen sich ähnlich. Aber von eurem Wesen seid ihr euch ähnlich.“

„Wie ist denn mein Wesen?“, wagte Susanne doch noch eine weitere Frage.

„So, wie es mir sehr gefällt. Danke für das Essen. Gute Nacht.“

Herr Wagner erhob sich und beendete damit die Mahlzeit und das Gespräch gleichermaßen.

Susanne blieb noch eine Weile am Küchentisch sitzen, nachdem Herr Wagner den Raum verlassen hatte. Noch immer konnte sie den Schauer fühlen, der ihr bei seinen letzten Worten über den Rücken gefahren war. Sie dachte vor allem darüber nach, was er ihr wohl nicht erzählt hatte. War da mehr gewesen zwischen ihm und seiner Haushälterin? Sie hatten jahrelang zusammen gewohnt. Doch wenn da etwas gewesen war, warum hatte er sie nicht geheiratet? Sie hatte eine unbestimmte Traurigkeit bei ihm verspürt. War das nicht nur seiner verstorbenen Frau wegen gewesen?

Sie würde nicht weiter in ihn dringen. Er hatte ihr mit seinem Verhalten klar gemacht, dass er nicht weiter darüber zu sprechen wünschte. Das würde sie von sich aus also nicht tun. Sein Satz, dass sie ihn an Christa erinnere, hinterließ ein Bauchprickeln in ihr. Sie hatte die besonderen Gefühle wahr genommen, die Herr Wagner für Christa verspürt haben musste.

Das Leben ging weiter. Der Ausflug ins Restaurant blieb kein Einzelfall. Schon beinahe traditionell gingen sie einmal die Woche gemeinsam auswärts Essen. Auch hier musste Susanne sich schmunzelnd eingestehen, dass sie nie gedacht hätte, dass es ihr Spaß machen würde, mit einem 89-jährigen auszugehen. Manchmal blieben sie unter sich, manchmal mischten sie sich unter seine ehemaligen Kollegen und sie knüpfte viele interessante Kontakte.

Eines Abends wurde sie bei einer solchen Gelegenheit von einem jungen Mann angeflirtet. Dass man mit ihr flirtete, war nichts ungewöhnliches. Ständig wurden Scherze darüber gerissen, dass sich Herr Wagner, oder Otto, wie ihn die meisten seiner Freunde nannten, in solch junger Begleitung zeigte und dass es kein Wunder sei, dass er höchstens wie 79 aussähe. Alle flirteten ungehemmt mit Susanne und baten sie auf scherzhafte Art und Weise, sie bitte auch vor dem Altern zu bewahren. Dieser Flirt war etwas anderer Natur. Ernsthaft. Der junge Mann, von dem sie glaubte, er würde irgendetwas hinter den Kulissen der Oper arbeiten, zeigte ernsthaftes Interesse an ihr. Er verwickelte sie in ein Gespräch, hörte ihr zu, lächelte sie an. Als ihr bewusst wurde, was er da tat, zog sie sich zurück. Wie sie es fast immer tat, wenn sich ihr ein Mann nähern wollte.

Als sie an diesem Abend das Lokal verließen, wollte Herr Wagner noch ein Stück zu Fuß gehen, ehe sie ein Taxi zurück nahmen. Um mit ihr zu sprechen, wie sie sogleich feststellte. Herr Wagner konnte nicht mehr schnell laufen, doch er war für sein Alter noch erstaunlich fit. So gingen sie durch die frühsommerlichen Straßen Münchens, als er die Frage stellte: „Hat Ihnen der junge Mann heute nicht gefallen?“

„Doch, er war ganz nett“, antwortete Susanne vorsichtig.

„Nett. Aha. Sie wissen, mit wem Sie es zu tun hatten?“

„Nein, sollte ich es?“

„Es gibt Frauen, die würden Ihnen nun die Augen auskratzen.“

„Oh, warum?“

„Er ist ein gefeiertes frisches Talent auf dem Markt der Tenöre. Das wussten Sie nicht?“

„Nein. Tut mir leid.“

Herr Wagner lachte. „Sie machen nicht den Eindruck, als würde es Ihnen wirklich leid tun. Reagieren Sie immer so, wenn ein Mann Interesse an Ihnen zeigt?“

Susanne seufzte. „Ich fürchte ja.“

„Ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, aber warum ist das so?“

Eine Weile lang gingen sie schweigend nebeneinander her, während die Frage zwischen ihnen hing.

„Die meisten Männer finde ich langweilig“, gab Susanne nach einer ganzen Weile von sich.

Wieder musste Herr Wagner lachen. „Oh Kindchen, jetzt haben Sie mich wirklich überrascht mit dieser Antwort. Ich dachte, da käme nun etwas von schüchtern oder schlechten Erfahrungen, aber langweilig, das ist klasse!“

Als er merkte, dass Susanne neben ihm nicht in das Lachen einfiel, verstummte er und hakte nach: „Welche Männer finden Sie denn nicht langweilig?“

„Meist sehr unerreichbare. Nein, nicht nur meist. Bislang immer.“

„Jetzt rücken Sie schon raus mit der Sprache.“

„Na ja. Es gäbe da beispielsweise einen meiner Professoren. Früher hätte ich einen Geschäftspartner meiner Mutter mal sehr interessant gefunden.“

„Sie stehen auf ältere Männer?“

„Nein, jedenfalls nicht vordergründig. Ich stehe wohl auf eine gewisse Lebenserfahrung und was sie aus den Menschen gemacht hat. Bei Männern meines Alters fehlt die meist. Da gibt es nur selten Exemplare, die mit so einer Selbstverständlichkeit durchs Leben gehen, dass es mich anspricht. Bei den meisten wirkt das eher aufgesetzt. Es gibt zwar Männer meines Alters, die mit einer unbekümmerten Gelassenheit durchs Leben gehen und mit einem solchen hatte ich einmal eine Beziehung. Aber da war das Problem, dass das Leben wieder zu locker genommen wurde. Zu locker für mich. Ich weiß nicht, ob Sie das jetzt irgendwie verstehen können. Ich mag einfach Männer, die mir in die Augen sehen und bei denen ich das Gefühl habe, sie sehen ganz tief in mich hinein.“

„Sie machen sich über dieses Thema gerade nicht zum ersten Mal Gedanken, nicht?“

„Natürlich nicht. Ich musste mir doch klar machen, warum ich auf die meisten Männer nicht reagiere.“

„Danke, dass Sie offen zu mir waren. Und jetzt besorgen Sie uns ein Taxi. Meine alten Knochen wollen nicht mehr.“

***

„Kindchen, wissen Sie eigentlich, was Sie mir damit antun?“

„Ach kommen Sie, ich habe die letzten Tage wie eine Wilde vorgekocht. Ist alles im Tiefkühlschrank. Und es ist alles fein säuberlich geregelt, dass jeden Tag jemand zu Ihnen kommt, nach dem Rechten sieht und das Essen aufwärmt. Ich bewahre Sie also vor weiteren grausigen Bekanntschaften mit dem Essen auf Rädern.“

„Ja, aber wer ersetzt mir meine Gesellschafterin? Das kann keine so gut wie Sie.“

Susanne musste lächeln und fühlte sich geschmeichelt, fühlte sie trotz des jovialen Tonfalls die Ernsthaftigkeit hinter dieser Aussage. Zwei Wochen Urlaub standen ihr bevor. Zwei Wochen würde sie zusammen mit einer Freundin in deren Eltern Ferienhaus verbringen. Irgendwo im Bayerischen Wald. Das Wo war ganz egal. Sie hatte sich vorgenommen, die zwei Wochen möglichst faul zu verbringen. Größtenteils lesend in der Sonne. Ihre Freundin wollte es ihr gleichtun und eine alte Jugendliebe aufsuchen, wie sie geheimnisvoll lächelnd kund getan hatte. Susanne war dies nur recht. Sie hoffte darauf, dass sie dadurch einige Zeit alleine verbringen durfte.

„Susanne, ich habe da noch etwas für Sie.“

Susanne blickte auf, denn es geschah selten, dass er sie bei ihrem Vornamen ansprach. Sie hatten zu Beginn ihrer Tätigkeit vereinbart, dass er sie so nennen durfte, doch meistens nannte er sie einfach nur liebevoll Kindchen. „Susanne“ hob er sich für besondere Gelegenheiten auf.

„Das Paket dort auf der Kommode ist für Sie. Ich habe mir erlaubt, ein wenig Urlaubslektüre für Sie zusammenzustellen. Entscheiden Sie selbst, ob Sie etwas daraus lesen möchten. Ich denke, da könnten interessante Sachen für Sie dabei sein. Ach ja… und tun Sie mir den Gefallen und öffnen Sie das Paket erst, wenn Sie am Ziel angekommen sind.“

Susanne nahm das kleine, aber angesichts dessen Inhalts recht schwere Paket an sich. „Danke“, brachte sie über ihre Lippen. Sie war verwirrt.

Verwirrt war sie noch immer, als sie zwei Wochen später zurück kam. Zum ersten Mal schloss sie mit bangem Herzen die Wohnungstür auf und stellte nach kurzer Zeit mit einer gewissen Erleichterung fest, dass sie sich alleine in der Wohnung befand. Sie trug ihre Tasche in ihr Zimmer und schloss die Tür. Einen Moment lang blieb ihr das Herz stehen, als sie sah, was an dem Haken an der Innenseite der Tür hing. Sie trat zwei Schritte zurück und setzte sich, den Blick nicht abwendend, auf ihr Bett. Ein Schauer lief ihr den Rücken hinab. Vor ihr hing eine klassische Dienstmädchenuniform. Nicht eine in der Art, wie man sie von Fasching oder noch schlimmer, aus dem Sexshop kannte. Nein, diese hier war züchtig. Der Rock würde sicherlich über ihr Knie reichen. Der Ausschnitt war hoch geschlossen. Die obligate weiße Schürze fehlte natürlich nicht. Das Ding, das da noch am Bügel baumelte, musste wohl ein Häubchen sein.

Eine Weile lang war Susannes Kopf wie leer. Sie konnte den Blick nicht von der Uniform abwenden. Dann stürzten alle möglichen Gefühle auf sie ein. Gefühle, die sie in den vergangenen zwei Wochen bereits durchlebt hatte und die mit einem Mal aus der Theorie in die Praxis gezerrt wurden.

Die Bücher. Es war eine eindeutige Auswahl gewesen. Herr Wagner hatte nur eine kleine Notiz dazugelegt.

Eine kleine Entdeckungsreise – vielleicht zu sich selbst?

Eine Entdeckungsreise. Das war es wahrlich gewesen. Sie war froh gewesen, dass ihre Freundin fast den gesamten Urlaub bei ihrer alten – und nun wieder neuen – Jugendliebe verbracht hatte. So hatte sie im Garten liegend ein Buch nach dem anderen verschlingen und viel über sich nachdenken können. Die Bücher hatten ihr gezeigt, was in ihr steckte. Hatten ihr klar gemacht, was hinter dem Bild ihres inneren Traummannes lag. Sie wollte sich unterwerfen. Sie wollte Souveränität über sich spüren. Das wusste sie jetzt, doch nach wie vor war sie verwirrt. Sie hatte sich noch nie zuvor mit diesem Thema beschäftigt. Auch wenn ihr jetzt einiges klar wurde. Einige ihrer sexuellen Fantasien machten nun Sinn. Ihr Verhalten Männern gegenüber ebenso.

Jetzt aber diese Uniform vor ihr. Herr Wagner hatte erkannt, was sie war. Aber ging das nicht zu weit? Er war ihr Chef, er war um so vieles älter, er war ihr Vertrauter. Gleichzeitig verspürte sie Lust, sich in diese Rolle zu begeben. Mutig zu sein. Neues zu wagen. Sollte dies ihr Weg zum Glück sein?

Sie stand auf und trat zur Uniform, befühlte den Stoff, nahm schließlich den Bügel vom Haken und hielt sich das Kleidungsstück vor den Körper, betrachtete sich dabei in dem kleinen Spiegel, der an der Wand hing und der sie leider nur zur Hälfte zeigte. Ein Zettel fiel auf den Boden. Er musste wohl irgendwo im Kleid angebracht gewesen sein.

Wenn Sie sich trauen, dann esse ich heute im Speisezimmer. Wenn nicht, dann essen wir in der Küche und reden. Herzlich O.W.

Sie las die Nachricht mehrfach durch. Registrierte sehr wohl die Verwendung von „ich“ und „wir“. Würde sie sich in das Dienstmädchen verwandeln, würde sie ihm servieren. Einen Moment schloss sie die Augen, fühlte ganz tief in sich hinein. Sie spürte die Lust, diesem Abenteuer nachzugeben. Gleichzeitig waren da all ihre Bedenken.

Im nächsten Augenblick zog sie sich aus. Sie wollte sich in der Uniform sehen. Dann wollte sie entscheiden. Kurze Zeit später sah sie sich wieder nur halb im Spiegel. Aus ihrem eigenen Kleidungsfundus hatte sie noch eine schwarze Strumpfhose und flache schwarze Schuhe beigesteuert. Jetzt war sie dabei, sich die Haare hochzustecken und das Häubchen halbwegs adrett in ihre Frisur zu integrieren. Woher bekam man heutzutage noch so etwas? Herr Wagner musste wirklich einen Plan geschmiedet haben, wie er sie lenken wollte. Sich lenken lassen. Das fühlte sich gut an, musste sie sich eingestehen. Das war der Moment, in dem sie beschloss, sich auf dieses Spiel einzulassen. Sie hatte keine Ahnung, wie sein weiterer Plan aussah. Aber sie konnte jederzeit abbrechen. Wenn sie nicht den nächsten Schritt ging, würde sie sich das vielleicht ein Leben lang vorwerfen.

Als sie mit ihrer Uniform aus ihrem Zimmer trat, war sie sehr aufgeregt. Sie wusste nicht, ob sie noch immer alleine in der Wohnung war. Sie hatte Angst vor ihrer ersten Begegnung mit Herrn Wagner und wie sie sich dann verhalten sollte. In der Küche war sie alleine. Erleichtert stellte sie fest, dass sie nicht zu kochen brauchte. Ein komplettes Menü wartete im Kühlschrank und brauchte nur aufgewärmt werden. Als sie dies in Gang gebracht hatte, musste sie aber den halbwegs sicheren Raum der Küche verlassen. Sie schlich regelrecht zum Esszimmer, war aber anscheinend noch immer alleine, es sei denn, Herr Wagner befand sich in seinem Schlafzimmer, das sie nicht betrat.

Im Esszimmer deckte sie den Tisch. Mit dem guten Geschirr. Ein Gedeck. Leinenserviette. Sie begab sich zurück in die Küche und ließ die Tür einen Spalt offen. Wartend. Nicht lange hatte sie das getan, als sie den Schlüssel in der Wohnungstür hörte. Ihr Herz schlug heftiger. Sie sagte nichts, er sagte nichts. Sie wusste, dass er den gedeckten Tisch würde sehen können. Sie hörte, wie er ins Badezimmer ging. Kurze Zeit später kam er wieder daraus hervor. Sie hörte seinen Schritt, untermalt vom Geräusch des Stockes, auf den er sich stützte. Sie hörte, wie er sich einen Stuhl zurecht schob, sich auf ihn setzte. Jetzt kam ihr Auftritt. Sie konzentrierte sich darauf, die Suppenschüssel nicht fallen zu lassen. In ihrer Aufgeregtheit erwartete sie genau dies. Sie konnte den Moment ihres ersten Zusammentreffens nicht mehr hinauszögern. Sie bog um die Ecke, die Suppenschüssel in den Händen haltend, und ihre Blicke kreuzten sich. Dieser stahlblaue Blick traf sie, schien ihr bis auf die Seele blicken zu können. Nach einem kurzen Moment trat ein Lächeln in seine Augen. Noch immer aufgeregt trat sie an ihn heran, stellte, ohne ihn direkt anzusehen – denn das hätte sie nicht weiter ertragen – die Suppenschüssel neben ihn und schöpfte Suppe in seinen Teller. Anschließend trat sie zwei Schritte zurück. Herr Wagner deutete auf die Schüssel: „Auf die Anrichte.“

Susanne tat, wie ihr geheißen und blieb neben der Anrichte stehen, froh, dass sich diese hinter Herrn Wagner befand und sie sich somit außerhalb seines Blickfelds befand. Wäre sie nackt gewesen, hätte sie sich in ihrem Outfit nicht entblößter fühlen können. Was sie hier preisgab, war ihr Inneres.

In scheinbarer Seelenruhe aß Herr Wagner seine Suppe und verlangte nur noch ein Getränk, das sie glücklicherweise schon vorbereitet hatte.

„Der nächste Gang bitte.“

Abermals ohne ihn anzublicken servierte sie den leeren Teller ab und begab sich in die Küche, um den nächsten Gang zu holen. Als sie wieder das Esszimmer betrat, wurde sie mit den Worten begrüßt: „Hole jetzt den Knicks nach, den du vorhin versäumt hast, als du mich zum ersten Mal gesehen hast.“

Susanne war stehen geblieben und ein kurzer, fast panischer Blick suchte den von Herrn Wagner. Der sah nur erwartungsvoll zu ihr. Susanne blickte zu Boden und knickste eilig, ehe sie den Teller, den sie in der Hand hielt, servierte und sich wieder auf ihren Platz an der Anrichte begab. Nach wie vor war sie aufgeregt und fühlte sich unsicher. Sie hatten noch kein persönliches Wort miteinander gewechselt. Sie hatte sogar bislang noch gar nichts gesagt.

Als Herr Wagner sein Besteck ordentlich auf dem Teller zusammenlegte, erwartete sie die Aufforderung, das Dessert zu holen. Er schien andere Pläne zu haben. Wie in Zeitlupe beobachtete sie von hinten, wie er zu seinem Stock griff, den er neben sich an den Tisch gelehnt hatte. Er setzte ihn ein Stück entfernt vom Tisch auf den Boden auf, löste seine Hand vom Griff und hielt den Stock einige Sekunden lang nur noch mit der Spitze seines Zeigefingers aufrecht. Der Finger hob sich und der Stock krachte mit einem lauten Knall zu Boden.

Die Stille, die sich nach diesem lauten Geräusch ausbreitete, war betäubend. Langsam bewegte sich Susanne schließlich auf den Stock zu, der erwartungsvoll auf dem Boden lag. Sie senkte ein Knie, um ihn leichter aufheben zu können und reichte in dieser Haltung den Stock zurück. Herr Wagner hatte sich inzwischen auf seinem Stuhl zu ihr herumgedreht und blickte auf sie hinab.

„Kannst du dich noch an unsere erste Begegnung erinnern, als du mir schon einmal meinen Stock gereicht hast?“

Susanne nickte.

„Schon damals habe ich ein Kribbeln in mir gespürt, von dem ich glaubte, dass ich dazu nicht mehr fähig sein würde. Schon damals hatte ich eine teils unbewusste Ahnung, was du sein könntest. Geht es dir gut?“

Susanne war froh, wieder auf dieser vertrauten Ebene mit ihm sprechen zu können, auch wenn sie das noch niemals getan hatten, während sie halb vor ihm kniete und in einer Dienstmädchenuniform steckte.

Sie nickte abermals. „Ja, es geht mir gut.“ Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: „Denke ich.“

„Komm, Kindchen. Begleite mich. Ich möchte dir den Raum zeigen, den du bislang noch nicht kennst.“

Susanne erhob sich, half Herrn Wagner beim Aufstehen und stützte ihn sogar noch auf dem Weg zu diesem Raum. Der Raum, der gegenüber dem ihren lag und der bislang verschlossen war.

Herr Wagner kramte aus seiner Hosentasche einen Schlüssel hervor und sperrte auf. Dahinter befand sich ein Schlafzimmer. Nichts aufregendes. Das Schlafzimmer Christas. Eine Staubschicht befand sich auf den Möbeln, ansonsten war es penibel aufgeräumt und anscheinend all die Jahre unverändert geblieben.

Herr Wagner setzte sich auf das Bett, das von einer Tagesdecke mit roten Blumen bedeckt war.

„Ich möchte dir von Christa und mir erzählen. Öffne doch bitte den Kleiderschrank.“

Susanne öffnete ihn und fand darin nur ein einziges Kleidungsstück hängen. Eine Uniform. Ähnlich zu der, die sie selbst gerade trug.

„Christa hat mir lange Jahre gedient“, fing er seine Erzählung an. „Und wenn ich dienen sage, dann meine ich das so. Wir hatten ein besonderes Verhältnis. Siehst du den Stock, der da in der Ecke lehnt? Damit habe ich sie gezüchtigt, wenn ich es für nötig befand oder Lust darauf hatte. Siehst du den Bock dort? Darüber hat sie dabei gelehnt. Es waren sehr schöne, aufregende Jahre. Zu einer Zeit, als die besondere Art unserer Beziehung sehr viel stärker tabuisiert war, als heutzutage. Das habe ich gemerkt, als ich auf die Suche nach Büchern für dich gegangen bin. Da habt ihr es heute etwas leichter.“

„Und sie war die ganze Zeit über Ihr Dienstmädchen? Ihre Haushälterin? Wollten Sie sie nicht heiraten?“

„Wir hatten darüber gesprochen, ich hatte es ihr angeboten. Sie wollte das nicht. Sie wollte genau diese Distanz zwischen uns haben, die ein Dienstverhältnis mit sich bringt. Dennoch haben wir uns geliebt. Von unserer Beziehung wusste niemand. Wir konnten das hier in unseren eigenen vier Wänden ungehemmt ausleben. Lediglich meine Tochter hatte vielleicht eine Ahnung.“

„Was ist mit ihr geschehen?“

„Sie ist gestorben. Wir waren beinahe gleich alt. Ich bin fast neunzig. Das ist ein Alter, das nicht allen Menschen vergönnt ist. Sie starb vor fünfzehn Jahren eines natürlichen Todes. Ihr Herz…“

Einen Moment lang hing Trauer im Raum und Susanne musste den Impuls unterdrücken, ihre Hand tröstend auf seinen Kopf zu legen.

Statt dessen fragte sie: „All diese Zeit war sie ihre Haushälterin? Bis ins hohe Alter?“

„Sie starb recht unerwartet. Bis zuletzt hat sie mir den Haushalt geführt, für mich gekocht, mich umsorgt und umhegt. Aber natürlich hatten wir nicht mehr das distanzierte Verhältnis, das man normalerweise zu seinen Angestellten pflegt. Auch mit ihr hatte ich viele anregende Unterhaltung am Küchentisch.“

Susanne musste lächeln.

„Im Prinzip waren wir nicht anders als ein altes Ehepaar. Mit getrennten Schlafzimmern. Was ja auch nichts ungewöhnliches ist.“

Susannes Blick fiel auf den Bock.

„Darf ich mal?“

„Nein, tue das besser nicht. Denke bitte an mein Herz“, sagte er mit einem Lächeln. „Komm lieber her zu mir. Komm, setz’ dich hier neben mich.“ Er klopfte kurz neben sich auf das Bett und Susanne setzte sich hin.

„Ich lag richtig mit meiner Vermutung, oder?“, fragte Herr Wagner sie.

Susanne konnte nicht verhindern, dass sie rot wurde. „Ja“, antwortete sie mit etwas brüchiger Stimme.

„Das war ganz neu für dich?“

Sie nickte.

„Gut. Bitte verzeihe mir mein forsches Vorgehen, aber wer weiß, wie viel Zeit mir noch bleibt. Was mich gleich zum nächsten Punkt bringt. Unterwerfe dich nicht mir. Ich bin zu alt. Viel zu alt. Das wäre weder gut für mich, noch für dich. Ich will auch nicht, dass du zu einer zweiten Christa für mich wirst. Pack die Uniform in deinen Schrank und hole sie vielleicht eines Tages für jemand anderen hervor. Aber wir können reden. Und wer weiß, vielleicht kann ich es noch erleben, dass du einen Mann findest, der deiner gerecht wird. Es wäre schön für mich, wenn ich dir dabei helfen kann. Und jetzt zieh das wieder aus. Ach ja. Ich wäre dankbar, wenn du den Staub hier entfernen würdest. Die Putzfrau will ich hier nicht reinlassen und ich schaffe das nicht mehr.“

Susanne erhob sich langsam. Noch etwas betäubt von dem, was sie gerade erfahren hatte. Von Herrn Wagner und über sich selbst. Sie gab einem weiteren Impuls nach. Kaum dass sie sich erhoben hatte, sank sie abermals vor Herrn Wagner auf die Knie, ergriff seine Hand, schmiegte ihren Kopf daran und murmelte: „Danke!“, ehe sie sich schleunigst erhob und in ihr Zimmer eilte.

© Devana Remold