Keine Lust auf Weihnachten

Schon wieder Weihnachten. Jedenfalls bald. Viel zu schnell war der Sommer vor sich hin geplätschert, der Herbst wurde nicht nur unter Blättern, sondern auch unter Arbeit erstickt – und damit gar nicht so recht wahr genommen – und nun sollte schon wieder Weihnachten vor der Tür stehen? Ihr Gefühl sagte Sabina, dass es noch Sommer war. Sonne, die durch ein grünes Blätterdach über ihr blinzelte. Lange Tage, laue Nächte, gemütliche Treffen im Garten mit Freunden.

Seit Wochen, nein, seit Monaten ignorierte sie das Wetter. Das konnte nur eine kleine Schlechtwetterfront sein. Ein bisschen kälteres Wetter, nichts Tragisches. Nächste Woche war es bestimmt wieder schön. Frühstück im Freien. Ganz bestimmt. Nicht der zweite Advent. Das konnte nicht sein. Wozu war sie seit Wochen, nein, seit Monaten mit Scheuklappen im Supermarkt an den Weihnachtsregalen vorbeigelaufen?

Sabina konnte sich den Tatsachen nicht weiter verschließen. Als Schocktherapie fuhr sie in den nächsten Konsumtempel und schlug bei dem bisher ignorierten Regal voll zu. Lebkuchen, Dominosteine, Marzipankartoffeln, Weihnachtstee – das volle Programm. Um der Therapie noch die Krönung aufzusetzen, fand sie zufällig sogar noch das erste Weihnachtsgeschenk.

Wieder in ihrer Küche sitzend, wurde unmittelbar den Marzipankartoffeln zu Leibe gerückt. Frustnaschen nannte man das wohl. Nein, sie wollte nicht, dass es Weihnachten wurde. Nicht dieses Jahr. Nicht so alleine.

Der Schmerz und die Sehnsucht überkam sie mit voller Wucht. Noch drei Monate würde er weg sein. Wenn alles gut ging mit seinem Riesenprojekt, das ihn so lange und so intensiv von ihr fern hielt. Diese drei Monate würde sie schon überstehen. Sie steckte gerade selbst in mehreren Projekten, die sie bis kurz vor Weihnachten voll in Anspruch nehmen würden. Gut gegen schlechte Gedanken. Wären da nicht die Wochenenden. Und Weihnachten.

Sie hatten sich ihr eigenes Ritual erschaffen. Seit Jahren feierten sie Weihnachten alleine. Oft fuhren sie sogar, wenn es sich ergab, ein paar Tage fort. Meist in ein kleines Ferienhaus, so dass sie vollkommen ungestört waren. Ein paar Tage, um sich ganz nah zu kommen. Ein paar Tage nur als Paar. Ein paar Tage, um das zu leben, wozu der Alltag sonst so wenig Zeit, zu wenig Ruhe ließ. Sie spürte jetzt, da sie in sich ging, diese Sehnsucht. Sich fallen lassen. Verantwortung abgeben. Sich umhüllen lassen, abschalten, schweben, gehorchen, an Grenzen gehen.

Ob es ihm ähnlich ging? Hatte er stille Momente, so wie sie gerade, in dem auch ihm die Sehnsucht überkam? In den kurzen Mails, die sie sich schrieben, vermieden sie das Thema. Es war zu schmerzhaft. Hin und wieder waren ein paar Minuten Skype drin. Letztens hatten sie sich nach einem „Hallo“ ein paar Minuten einfach nur angesehen. Ja, es ging ihm sehr wohl ähnlich und das war tröstlich. Gemeinsam litt es sich leichter.

Sabina fasste einen Entschluss. Ihr Weihnachten würde dieses Jahr verschoben werden. Sie suchte im Internet und fand recht schnell eine traumhafte Hütte. Spottbillig, da außerhalb der Saison. Das verschobene Weihnachten hatte also wenigstens diesen Vorteil. Morgen würde sie Urlaub beantragen und auch in seiner Firma anrufen und diese Tage, die sie zur Sicherheit sogar noch einen Monat nach der geplanten Wiederkehr geplant hatte, auch für ihn frei nehmen. Unter dem Deckmantel der Verschwiegenheit. Sie kannte die Leute.

Danach fühlte sie sich besser. Sehr viel besser. Die Lebkuchen würden noch einen Tag überstehen. Statt dessen machte sie sich eine Tasse Tee und überlegte, ob sie nicht irgendwo die DVD „Die Geister, die ich rief“ haben müsste. Ihre Geister hatte sie für eine Weile verscheucht. Weihnachten war gesichert. Sie würde es feiern, wie gewohnt. Aber wie würde sie dieses Jahr dieses Vorweihnachtsfest am 24. Dezember feiern? Drei Monate vor Weihnachten?